Berichte

Arbeiter:innen wurden gerufen, es kamen Menschen an!

ein persönlicher Bericht von Aynur Karlikli, Mitglied im geschäftsführenden Landesvorstand und Landesmigrationsbeauftragte

Am 30. Oktober 1961 unterzeichneten das Auswärtige Amt und die türkische Botschaft in Bonn/Bad Godesberg ein Abkommen, das die Entsendung von Arbeitskräften aus der Türkei nach Deutschland regelte. Auf der Basis dieses Abkommens kamen zwischen 1961 und 1973 fast 900.000 Frauen und Männer zum Arbeiten in die Bundesrepublik und nach Westberlin. Die Mehrheit wollte nur einige Jahre bleiben, auch das Abkommen beschränkte den Aufenthalt der sogenannten Gastarbeiter zunächst auf maximal zwei Jahre – viele sind bis heute geblieben und Teil der deutschen Gesellschaft geworden. Sie haben dieses Land mit aufgebaut und mitgestaltet.

Deutschland wollte lange kein Einwanderungsland sein.

So wie meine Eltern. Sie wollten nur fünf Jahre in Deutschland arbeiten und sich eine Wohnung in der Türkei kaufen. Doch haben sie sich dafür entschieden hier zu bleiben. Ich war 6 Jahre alt, als mein Vater 1972 die Familie aus Ankara nach Nagold nachholte, wo er Arbeit als Rangierarbeiter bei der DB Bahn gefunden hatte. Als Kind eines Elternhauses, in dem vornehmlich türkisch gesprochen wurde, machte ich eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Doch regelmäßig zu runden Jahrestagen des Anwerbeabkommens holt mich meine Biografie wieder ein: Die schwere Kindheit, in der ich kaum ein Wort sprach als ich eingeschult wurde. Identitäts- und Anpassungsschwierigkeiten in der Pubertät und lange das Gefühl, zwischen den beiden Ländern nirgendwohin zu gehören. Das prägte mich sehr. Ich brauchte lange als Angehörige der zweiten Generation mich zurecht zu finden, zumal meine Eltern körperlich hier, doch geistig in der Heimat lebten, waren sie mir und meinen Geschwistern keine große Hilfe, um uns in der neuen Heimat zurecht zu finden. Wir mussten alles selber erkunden.

Doch freue ich mich, dass die Aufmerksamkeit an solchen Jahrestagen da ist und hoffe, dass diese Aufmerksamkeit dazu führt, dass bei den Menschen ankommt, „dass wir ja schon seit 60 Jahren hier leben“. „Im Grunde sind wir ja schon längst Teil dieser Gesellschaft“, geworden. Gleichwohl würde die Politik Deutschland noch nicht lange als Einwanderungsland bezeichnen. Nicht selten dienten wir als Grund für Wirtschaftskrisen und so manches was in Deutschland so schieflief.

„Rückschritt, ganz besonders auch in der dritten und vierten Generation“

Diese Integration, von der oft gesprochen wird, wurde von der Mehrheitsgesellschaft nicht wirklich zugelassen, da hier nicht die Möglichkeiten geschaffen wurden, damit sich die Migranten besser aufgenommen fühlen. Andererseits gibt es auch viele türkischstämmige Menschen, die schon seit 60 Jahren in Deutschland leben und trotzdem sagen, dass sie sich der Türkei zugehörig fühlen. Es gibt hier auch ein Rückschritt, ganz besonders auch in der dritten und vierten Generation. Dies ist traurig, aber erklärbar. Denn Deutschland hat Jahrzehnte lang vermieden, türkischstämmige Menschen als Teil des Landes zu sehen. Das erleben türkischstämmige Menschen täglich durch die strukturelle Benachteiligung, etwa bei der Wohnungssuche, bei den Bildungschancen und im Beruf. 

„Eine Gesellschaft verändert sich immer wieder".

Integration ist niemals abgeschlossen. Weil es kein statischer Zustand ist. Eine Gesellschaft entwickelt sich immer wieder neu und verändert sich. Die Erwartungen und die Bedürfnisse der Menschen verändern sich fortwährend. Integration hat auch nichts nur damit zu tun, „dass Menschen mit anderen Kulturen, kulturellem Hintergrund oder einem anderen religiösen Hintergrund sich in die Mehrheitsgesellschaft integrieren“.  Für mich bedeutet Integration auch: Eine Gesellschaft zu haben, wo alle Menschen, egal woher sie kommen, egal wie sie leben, egal, woran sie glauben, eine Partizipationsmöglichkeit haben. Genau hier sehe ich die Aufgabe für mich, meiner Partei und der Mehrheitsgesellschaft. Nur wenn wir lernen, gemeinsam das Leben in dieser Gesellschaft zu gestalten, haben wir die Chance die Zukunft gemeinsam zu gestalten.