Berichte

Sorgende Städte in Baden-Württemberg

von Sabine Skubsch

Im kommunalen Eckpunkteprogramm 2024 der LINKEN Baden-Württemberg steht: “Wir wollen Sorgende Städte und Gemeinden in Ba-Wü”. “Sorgende Städte” bedeutet kurz zusammengefasst zweierlei:

  • Erstens: Ist es die Anerkennung dessen, dass Sorgearbeit ein fundamentaler Bestandteil jeder Volkswirtschaft ist.
  • Zweitens geht es darum, wichtige Teile der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand zurück zu holen bzw. zu vergesellschaften.

Zum ersten Punkt: Sorgearbeit ist systemrelevant. Marx hat sich bei seinen Untersuchungen vor allem mit der Produktion der Lebensmittel bzw. der Konsumgütern beschäftigt, aber er hat schon erkannt, dass es noch eine andere Produktion, nämlich die Produktion des Lebens (MEW 3, 29 f.), gibt.

Es gehört zu den Erkenntnissen des marxistischen Feminismus, dass es diese zwei Produktionen gibt, die Produktion des Lebens sowie die Produktion der Lebens- und Gebrauchsgüter. U.a. hat die feministische Soziologin Frigga Haug (die auch Mitglied der LINKEN ist) intensiv dazu geforscht. 

Die Produktion des Lebens ist: Schwangerschaft, Geburt, Kinderbetreuung, Kranken- und Altenpflege etc., also kurz gesagt, die Sorge um andere Menschen, ohne die wir Menschen nicht leben und nicht überleben können.

Nach dem Konzept “Sorgende Städte” wird schon in Lateinamerika und Spanien gearbeitet. 2017 legte die linke Stadtregierung von Barcelona als Bestandteil ihres »rebellischen Regierens« ein »Maßnahmenpaket für eine Demokratisierung der Sorge in der Stadt Barcelona« vor. Dieses Maßnahmenpaket zielt darauf, „Sorgearbeit ins Zentrum einer kommunalen Wirtschaftspolitik zu stellen, statt sie entweder als Privatangelegenheit oder lediglich als Aspekt einer paternalistischen und tendenziell passivierenden Sozialpolitik zu behandeln. Wirtschaftspolitische Maßnahmen sollten entsprechend über Fragen der Unternehmens- und Arbeitsmarktpolitik hinausgehen, auf den gesamten (auch unentlohnten) Care-Sektor ausgeweitet werden und Ansätze einer solidarischen Ökonomie, der Selbstorganisierung und von Genossenschaften“ (1) fördern. 

Sorge um die Menschen ist also kein “Gedöns”, das “von Natur aus” den Frauen zuzuordnen ist.

Sorge um die Menschen ist kein Nebenaspekt des Lebens, der um die Lohnarbeit herum erledigt wird und ein bisschen von einer paternalistischen Familienpolitik unterstützt werden muss.

Auf die Sorge anderer angewiesen zu sein, ist kein Ausnahmefall des Lebens. Es gehört zum Leben.

Wir alle, selbst der ignoranteste Macho, waren als Säuglinge auf andere angewiesen und viele von uns werden es im Alter wieder sein.

Das Konzept "Sorgende Städte” geht von der Arbeit aus, die Menschen - beruflich oder in privaten Haushalten - in der Carearbeit leisten. Und es geht von den Bedürfnissen aus, die wir als Menschen (Kinder, Kranke, Pflegebedürftige) haben.

Zweitens geht es bei dem Konzept “Sorgende Städte” darum, wichtige Teile der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand zurück zu holen. Denn nach Jahren zerstörerischer Privatisierungspolitik ist offensichtlich geworden, dass wir diese nicht länger dem Markt überlassen werden können. Es fehlen Plätze in Kitas und in der Altenpflege, die Krankenhäuser sind überlastet.

Das Konzept "Sorgende Städte" setzt einen anderen Akzent als das Konzept "Vereinbarkeit von Beruf und Familie". Es geht um mehr, als die Sorgelöcher zu stopfen, damit die Mütter bzw. Eltern kleiner Kinder zur Lohnarbeit gehen können. Bisher orientieren sich die Öffnungszeiten der Kitas daran, dass die Eltern zur Arbeit gehen können. Sie liegen aber nicht so, dass die Mütter abends tanzen gehen können oder Zeit für Stadtteilarbeit haben. In privaten Haushalten wird ein Teil der Sorgearbeiten an Sorgekräfte aus Lateinamerika oder Osteuropa weiterdelegiert, die hier unter prekären Verhältnissen arbeiten und deren Kinder dann wieder von anderen in der Carekette versorgt werden.

“Sorgende Städte” ist kein fertiges Konzept. Es ist eine übergreifende Erzählung. in deren Rahmen wir konkrete Vorstellungen entwickeln können, wie wir das Leben in der Mittelpunkt stellen und nicht mehr akzeptieren, dass wir das Leben rund um die Lohnarbeit herum organisieren müssen. Praktisch heißt das u.a.:

  • Wir wollen, dass wir eine wohnortnahe Sozialstruktur geschaffen wird. Das bedeutet z.B. flächendeckende Geburtshilfestationen, auch auf dem Land. Das bedeutet ebenso Pflegeeinrichtungen, die fußläufig erreichbar sind, damit der Enkel häufig den Opa oder die Tochter häufig die Mama besuchen können.
  • In Barcelona wurde eine „Sorgekarte“ eingeführt, durch die die Menschen mit großer häuslicher Sorgeverantwortung einen bevorzugten Zugang zu kommunalen Sorge-Infrastrukturen und sozialen Angeboten erhalten.
  • Wir brauchen Mitbestimmung in der öffentlichen Daseinsvorsorge durch Care-Räte, in denen Betroffene, deren Angehörige, Beschäftigte und soziale Träger vertreten sind.
  • Schließlich muss die Gesundheit und Pflege in die Hand von Kommunen oder sozialen Trägern und sie muss an den Bedürfnissen der Menschen und nicht nach ökonomischen Gesichtspunkten organisiert werden

Das Konzept “Sorgende Städte” hat auf dem Frauenplenum des Landesparteitags eine lebhafte Debatte ausgelöst. Es gab zahlreiche Wortmeldungen, die zeigten, wie wichtig es ist, dass die tägliche Arbeit bei der Produktion des Lebens gesehen, beachtet und umverteilt wird.

Das Frauenplenum sprach sich dafür aus, das Konzept „Sorgende Städte“ zum feministischen Schwerpunkt im Kommunalwahlkampf 2024 zu machen.

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(1) Barbara Fried, Alex Wischnewski: Sorgende Städte. Vergesellschaftet die Care-Arbeit!

https://www.rosalux.de/news/id/46043

Sandra Ezquerra und Christel Keller: Für eine Demokratisierung der Sorgearbeit. Erfahrungen mit feministischen Care-Politiken auf kommunaler Ebene in Barcelona

https://www.rosalux.de/fileadmin/user_upload/pdf/Barcelona_Onl-Studie_Sorgearbeit_FINAL_dt.pdf

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Sabine Skubsch gehört zum Sprecherinnenforum der LAG Frauen der LINKEN Baden-Württemberg